15. Juni 2021

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Xinjiang: Zwangssterilisationen, Abtreibungen, Kindstötungen - eine Ärztin sagt aus

Neugeborene wurden durch tödliche Injektionen getötet, um die Familienplanung der KPCh gegen die Uiguren durchzusetzen.

von Ruth Ingram

Ethische Standards werden beiseite gefegt und ungeborene Babys auf dem Altar der Familienplanungspolitik in Chinas nordwestlicher Region Xinjiang geopfert, behauptet eine ehemalige Krankenschwester, deren Gewissen ihr verbietet, zu schweigen.

Shemsinur Abdighafur, die vor dem Uigurentribunal in London aussagte, arbeitete nach ihrem medizinischen Abschluß als Ärztin in traditioneller uigurischer Medizin als OP-Schwester in mehreren Krankenhäusern in Xinjiang. Sie gibt an, im Laufe ihrer Karriere Zeuge von Zwangsabtreibungen und Sterilisationen sowie der Tötung von Neugeborenen durch tödliche Injektionen geworden zu sein.

Shemsinur Abdighafur sagt vor dem Tribunal Anfang Juni 2021 in London aus

Nachdem sie 2010 in die Türkei geflohen ist, kann Shemsinur nun endlich reden. Was sie gesehen hat und gezwungen wurde, mitzuerleben, hat sie über die Jahre hinweg beunruhigt, und trotz der Drohungen gegen ihre Familie in der Heimat und der Angriffe auf ihren eigene Person durch die chinesische Regierung sieht sie keine andere Möglichkeit, als jetzt auszusagen.

In ihrem ersten kleinen Landkrankenhaus wurden drei bis fünf Abtreibungen und Sterilisationen pro Tag durchgeführt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes wurde sie in ein größeres Kreiskrankenhaus geschickt, wo sie sich in einer gynäkologischen Abteilung weiterbildete und täglich zwanzig Zwangsabtreibungen und Sterilisationen miterleben mußte. Diese Dilemmata veranlaßten sie, ihre eigene Klinik zu eröffnen, aber die Notwendigkeit, sich beruflich weiterzuentwickeln, zwang sie erneut in die Tretmühle der Familienplanung. Als sie in einer Reihe von Krankenhäusern in der ganzen Provinz arbeitete, um Erfahrungen zu sammeln, war sie entsetzt über das, was sie sah. Nicht nur, daß sie bei Abtreibungen und Sterilisationen mitwirken mußte, oft wurden auch bereits geborene Babys durch eine Injektion getötet.

„In der Zeit, in der ich in Krankenhäusern arbeitete, konnten wir manchmal hören, daß einige Babys geboren wurden, und als sie zu schreien anfingen, schlossen wir, daß sie am Leben waren. Aber wir wußten, daß alle Babys die Injektion bekommen würden, also war klar, daß sie sterben würden, bevor sie nach Hause kamen“, sagte sie.

Die gnadenlose Verfolgung von schwangeren Frauen ist ein auffälliges Merkmal der drakonischen Maßnahmen gegen außerplanmäßige Geburten, behauptet Shemsinur, die von der großen Anzahl von Ressourcen sprach, die eingesetzt werden, um diejenigen zu verfolgen, die verdächtigt werden, die Vorschriften zur Familienplanung zu mißachten. Es wird nichts unversucht gelassen, um geheime Geburten aufzuspüren, und es wird kein Aufwand gescheut, von Tür zu Tür zu gehen, um auf Hinweise von Informanten zu reagieren.

Als sie einmal eine „illegal“ schwangere Freundin in ihrem Haus versteckte und plante, das Baby selbst zu entbinden, wurden sie denunziert, gepackt und zur Abtreibung ins Krankenhaus gebracht. Nachdem sie einen Deal mit uigurischen Ärzten ausgehandelt hatten, die das Baby im siebten Monat erfolgreich zur Welt brachten, ersannen sie eine List, um den Behörden ein zuvor „liquidiertes“ Baby eines anderen Paares mit deren Erlaubnis zu präsentieren. Sie behaupteten, das Kind ihrer Freundin erfolgreich getötet zu haben, und machten sich aus dem Staub. Traurigerweise starb das Baby trotz ihrer Bemühungen und infolge mangelnder Behandlung vier Stunden später.

Wo immer es möglich war, versteckte Shemsinur schwangere Frauen entweder in ihrem Haus, fand andere, die bereit waren, ihre eigene Sicherheit zu riskieren, um zu helfen, oder zog in ihrem eigenen Krankenhaus die Fäden, um ungeborene Babys zu schützen. Stichproben waren häufig, manchmal tauchten unbekannte Beamte auf und verlangten, ihre Verfahren zu inspizieren. Obwohl sie ihren Job oder Schlimmeres riskierte, um Babys zu retten, und weil ihre Tricks notwendigerweise geheim waren, wurde sie oft von Uiguren kritisiert und verhöhnt, weil sie mit den Behörden „im Bunde“ war. „Da wir für den Staat arbeiteten, vertrauten uns die Menschen vor Ort nicht. Sie beschimpften uns sogar und sagten uns, wir seien die Hunde der Chinesen, aber sie kannten unsere wahren Gefühle nicht. Die Beziehung war also nicht gut“, berichtete sie.

Viele uigurische Ärzte und einige private Krankenhäuser versuchten, die Politik der Regierung zu „unterlaufen“, indem sie einsprangen, um Babys zu retten. Daraufhin wurden einheimische chinesische Ärzte herangezogen, um die Fälle komplett zu übernehmen. Durch die Verabreichung einer geringeren Dosis des Mittelfristabtreibungsmittels Rivanol bestand die Chance, daß das Baby lebend geboren werden konnte. „Wir haben viele Babys gerettet, aber dann haben die Behörden uns davon abgehalten, es zu tun und jeder einzelne Fall wurde danach von den Behörden gehandhabt. Sie haben aufgehört, uns zu vertrauen“, sagte sie.

Shemsinur arbeitete inzwischen in einer postnatalen Abteilung und konnte die Zahlen kaum noch im Auge behalten, aber sie wußte, daß sie unerbittlich waren. Bis die Familienplanungsbehörden die Abteilung übernahmen, gelang es ihr, mit Hilfe von Kontakten Zugang zum Operationsareal zu erhalten und die Situation zu verfolgen. Sie fand heraus, daß mindestens drei bis fünf Zwangsabtreibungen oder Sterilisationen pro Tag durchgeführt wurden. „Wenn eine Frau eine Injektion mit diesem (Medikament) bekam, starb das Baby. Die Spritze und die Nadel sind sehr lang, und es wird direkt in die Gebärmutter gespritzt. Wenn sie die Nadel hineinstecken, sehen sie, ob eine Flüssigkeit herauskommt, wenn ja, bestätigt dies, daß sie an der richtigen Stelle ist. Ich habe gesehen, wie die Injektion durchgeführt wurde. Es wurde täglich gemacht“, sagte sie.

Sie erzählte vom tragischen Tod ihrer Schwägerin, die naiv annahm, daß sie anonym entbinden könnte, wenn sie in eine größere Stadt, Karakax, ginge, wo sie unbekannt war. Es war ihre „illegale“ dritte Schwangerschaft, und sie erwartete Zwillinge. Ihr Geheimnis wurde entdeckt, und das Medikament wurde bei der Ankunft verabreicht. Innerhalb weniger Minuten waren nicht nur die Babys, sondern auch die Mutter tot.

„Meine Schwägerin war sehr gesund und hatte keine Krankheit und starb einfach so. Mein Mann wartete zusammen mit dem Mann meiner Schwägerin, und schon nach 15 Minuten, also weniger als einer halben Stunde, kam ein toter Körper heraus. Das Krankenhaus sagte, sie hatte ein Herzleiden, aber ich bin ja selbst Ärztin, meine Schwägerin war dreißig Jahre alt, und ich weiß, daß sie keine Krankheit hatte. Die Familie nahm die Leiche und man beerdigte sie“, sagte sie.

Im Jahr 2008 mußte Shemsinur durch eine bittere persönliche Erfahrung feststellen, daß es ein Quotensystem für Hysterektomien gab. Nach drei Jahren persönlicher Krankheit, ausgelöst durch den Tod ihres Vaters im Jahr 2005, entdeckten die Ärzte schließlich einen präkanzerösen Tumor in ihrer Gebärmutter. Man drohte ihr, daß sich der Krebs in ihrem ganzen Körper ausbreiten würde, wenn ihre Gebärmutter nicht entfernt würde. Postoperative Pathologieberichte fanden jedoch keinen Krebs und sie erkannte, daß ihre Hysterektomie unnötig gewesen war. „Jeder Arzt muß etwa zweitausend Gebärmütter im Jahr entfernen“, hatte sie gesagt. „Das ist unser Job, wir müssen das machen.“

Ihre schockierende Schlußfolgerung, die noch nicht überprüft oder bestätigt ist, aber auf persönlichen Erfahrungen aus der Arbeit in verschiedenen Krankenhäusern in Xinjiang beruht, ist, daß bei siebzig Prozent der uigurischen Frauen in der Gegend von Hotan die Gebärmutter entfernt worden war. „Wenn die Behörden etwas in der Gebärmutter fanden, nutzten sie jeden Vorwand, um sie zu entfernen“, sagte sie. Sie nahm an, daß die Situation in der Hauptstadt Urumqi die gleiche sei. „Wenn eine uigurische Frau ein kleines Problem in der Gebärmutter hat, entfernen sie sie“, sagte sie und zitierte Frauen, die sie persönlich behandelt hatte. Auf ihre Zeit in der Mutter-Kind-Station in Hotan verweisend, sagte sie, daß drei von vier Frauen ihr gesagt hätten, daß sie keine Gebärmutter hätten. „Manchmal kamen wir wegen der hohen Arbeitslast in der Geburtenkontrollabteilung, um ihnen zu helfen. So wußte ich, daß viele uigurische Frauen keine Gebärmutter haben“, sagte sie.

Während ihres Kreuzverhörs durch das Tribunal bezüglich der Ethik der Tötung von lebend geborenen Babys sagte Shemsinur, daß es in Chinas Krankenhäusern ethische Standards gäbe, die aber nur so lange befolgt würden, bis sie nicht mit einem höheren Regierungserlaß in Konflikt gerieten, der sie außer Kraft setze. „Wenn es um Familienplanung geht, ist das eine völlig separate Regierungsabteilung und sie haben höhere Befugnisse“, sagte sie. „Wir können ihre Standards nicht ändern. Ethik ist nur Tinte und ein Stück Papier, wenn es um Geburtenkontrolle geht“, sagte sie.

Shemsinurs Bruder kam 2016 mit der Mutter zu Besuch in die Türkei und kehrte nach zwei Wochen nach Xinjiang zurück. Dafür wurde er zu 10 Jahren Haft verurteilt. Nachdem sie vier Jahre lang nichts mehr von anderen Familienmitgliedern gehört hatte, seit sie 2017 von der Heimat abgeschnitten war, sah sie ihre Schwester das nächste Mal im chinesischen Fernsehen, als diese sie während einer eilig einberufenen Pressekonferenz der KPCh letzte Woche nach ihrer Aussage vor dem Tribunal heftig angriff. Verwandte der Zeugen wurden im nationalen Fernsehen vorgeführt und dazu gezwungen, ihre Familienmitglieder zu denunzieren.

Im Zusammenhang mit den Berichten von Shemsinur, daß Frauen nach zwei Kindern die Gebärmutter entfernt wurde, mußte ihre Schwester Marhaba antworten, daß sie so etwas nie gesehen oder gehört habe. Sie verwies auf ihre eigene Mutter, die acht Kinder bekommen hatte und nie zu einer Hysterektomie gezwungen worden war. „Was mich betrifft, so bin ich ein Kader mit zwei Kindern und es hat mich niemand jemals zu so etwas gezwungen“, rief sie. „Alles, was meine Schwester sagt, sind Lügen. Das ist eine Verleumdung unseres Landes und Xinjiangs. Ich hasse dich!“

Lebhaft schloß Marhaba in dem Propaganda-Video: „Wir leben so gut. Wir sind sehr glücklich.“